Die Studie „Sicherung der genetischen Diversität in hessischen Rotwildpopulationen“ lässt nicht nur die Wissenschaft aufhorchen, sondern sorgt auch deutschlandweit für Aufmerksamkeit unter Experten und Artenschützern.
Denn: Die genetische Vielfalt ist in einigen hessischen Rotwildgebieten reduziert und der genetische Austausch zwischen den Teilpopulationen ist insbesondere entlang der großen Bundesautobahnen bereits dramatisch reduziert.
Erste Missbildungen wurden bereits dokumentiert. Doch dies sei nur die Spitze des Eisberges, sagt mein heutiger Gast, Prof. Dr. Dr. Gerald Reiner. Er ist Wissenschaftler am Klinikum Veterinärmedizin und am Arbeitskreis Wildbiologie der Justus-Liebig-Universität Gießen und hat sich auf die Untersuchung genetischer Probleme bei Haus- und Wildtieren spezialisiert.
Auch privat liebt er Tiere – gemeinsam mit seiner Frau lebt er auf einer Hofreite in einem schönen Fachwerkhaus in Mittelhessen, hat drei Schweine im eigenen Hof, Border Collies und eine kleine Schafherde. Außerdem hat er gerade einen Fotobildband über die gefiederte Biodiversität Deutschlands und Europas veröffentlicht. Er ist begnadeter Naturfotograf. In jedem seiner Fotos ist seine Liebe zur Tier- und Vogelwelt deutlich zu erkennbar.
Download:
Die Studie “Sicherung der genetischen Vielfalt beim hessischen Rotwild als Beitrag zur Biodiversität” können Sie unter folgendem Link herunterladen:
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Blick ins Buch: Gefiederte Biodiversität Deutschlands und Europas – wildlife
UVP Preis: 39 €, ISBN 978-3-936802-33-7
Autor: Gerald Reiner
Jahr: 2021
Bestellungen sind über die Deutsche Wildtierstiftung möglich.
Auszug aus dem Podcast Genetische Vielfalt beim Rotwild:
Was bedeutet eine Inzuchtdepression, wie muss man sich die genetische Zusammensetzung einer kleinen Population von ca. 200 Tieren vorstellen?
Gerald Reiner (GR): Eine Population sollte einen möglichst hohen Heterozygotiegrad aufweisen, d.h. an jedem Genort sollten je Tier möglichst zwei und in der Population viele Genvarianten vorhanden sein, damit z.B. im Falle des Klimawandels eine bessere Genvariante genutzt werden kann. Das entspricht einem guten Blatt im Spiel des Lebens.
Inzuchtdepressionen sind körperliche Auswirkungen, wie Unterkieferverkürzung, verminderte Vitalität und Fruchtbarkeit, die sich aus dem Verlust wertvoller Genvarianten in zu kleinen, isolierten Populationen und bei Inzucht ergeben. Dabei versteht man unter Inzucht, dass die väterliche und mütterliche Genvariante, die einem Kalb vererbt wurden, exakt dieselbe Variante darstellen, weil beide Eltern diese Variante von einem gemeinsamen Vorfahren geerbt hatten. Die Chance auf Inzucht steigt also in kleinen und von anderen isolierten Populationen stark an. Die dabei auftretenden genetischen Veränderungen zeigen sich dabei gleichzeitig an vielen Stellen der Chromosomen. Man spricht auch von ansteigenden Homozygotiegraden. Überall gehen wertvolle Genvarianten, also die Heterozygotie verloren.
Besonders dramatisch sind die Folgen im Bereich von Defektgenen. Wir alle tragen viele solcher defekten Gene in uns, aber aufgrund des doppelten Chromosomensatzes ist immer noch eine funktionierende Genvariante vorhanden. Bei hohen Homozygotiegraden, also Inzucht, wenn dieselbe Variante von einem gemeinsamen Vorfahren über Vater und Mutter vererbt wird, kommt es folglich zum Totalausfall. Hierbei leiden insbesondere Vitalität, Fitness und Fruchtbarkeit. Man muss sich vorstellen, dass auf dem Weg vom befruchteten Ei bis zum fertigen Kalb rund 25.000 Gene nach einem exakten Muster der Reihe nach eingeschaltet werden. Kommt die Reihe an ein Gen mit Totalausfall, stirbt der Embryo ab oder wird geschädigt. Den Verlust des Embryos bekommt niemand mit – wer kennt schon die genauen Wurf- bzw. Setzdaten der Wildtiere. Überlebende Tiere können mit Missbildungen geboren werden, z.B. ohne Nase, ohne Augen oder mit verkürztem Unterkiefer.
Wenn Sie die genetischen Varianten innerhalb der Population in Farben beschreiben, welches Bild würde sich in einem gesunden und genetisch vielfältigen Besatz zeigen?
GR: Hessen und alle darin lebenden Populationen müsste wie ein bunter Flickenteppich aussehen, wenn die Genvarianten normal untereinander ausgetauscht werden könnten.
Wie sieht das farbliche Bild aus, wenn die Genvarianten nur noch eingeschränkt vorkommen?
GR: Tatsächlich finden wir im Südwesten fast nur Blau, im Nordosten fast nur Grün, im Nordwesten fast nur GELB und Grau und im Südosten fast nur Rot und Braun.
Warum gehen „gute und seltene Genvarianten“ schneller verloren als beispielsweise Defekt- oder Letalgene?
GR: Weil jede einzelne Genvariante plötzlich nach dem Klimawandel gebraucht werden könnte. Dabei kommt es auf jede seltene Variante an, die schon mit dem Verlust eines einzelnen Tieres für immer verloren gehen kann. Mit jeder verlorenen Variante steigt jedoch der Homozygotiegrad an und damit die Chance, dass wenn irgendwo ein Defektgen liegt, sein Gegenüber auch defekt ist, weil es sich ja um dieselbe Genvariante, beide von einem gemeinsamen Vorfahren der Eltern handelt. Defektgene können sich in einer Population bei Inzucht anreichern, weil die zunächst noch mischerbigen Tiere damit nicht auffallen. Sie können auch wieder verloren gehen, aber das Problem ist, dass im Laufe der Embryonalentwicklung mehr oder weniger alle Gene auf homozygote Defekte durchgetestet werden, die dann ihre fatale Wirkung ausüben.
Was hat es in diesem Zusammenhang mit der genetischen Drift auf sich?
GR: Genetische Drift bezeichnet den zufälligen Wandel der verfügbaren Genvarianten einer Population von einer Generation zur nächsten. Je größer die Population, desto häufiger kommen auch die seltenen Varianten vor. Fällt ein Tier aus, finden sich wahrscheinlich noch weitere Träger dieser Variante. In einer kleinen Population ist es wahrscheinlich der Totalausfall. 1.000 Tiere können an einem Genort theoretisch eben bis zu 2.000 verschiedene Genvarianten tragen, 10 Tiere nur 20.
Also: Wenn ein kleiner Bestand von ca. 200 Tieren nur noch geringe Genvariationen aufweist und quasi auf einer Insel lebt, verpaaren sich logischerweise die Tiere immer nur untereinander. Das „Verwandschaftsverhältnis“ wird damit immer enger. Seltene Genvarianten gehen verloren. „Schlechte Gene“ mit Defektvarianten treffen immer häufiger aufeinander. Was passiert dann?
GR: Wird in einem Embryo ein wichtiges Gen zum ersten Mal eingeschaltet und es liegt nur als zweifache Defektvariante vor, dann stoppt die Entwicklung des Embryos oder es stellt sich ein Defekt ein. Defekte werden oft sichtbar, z.B. Unterkieferverkürzung oder schlechte Konstitution. Absterbende Embryonen bedeuten schlechte Fruchtbarkeit; die kann man im Stall exakt nachvollziehen, aber leider nicht im Wald.
Welche Auswirkungen sind außerdem im Gesamtbestand vorhanden, auch wenn sie noch unsichtbar bleiben?
GR: Es ist immer besser die Wahl zu haben. Eine von zwei Genvarianten wird unter den gegebenen Umständen immer etwas besser funktionieren als die andere. Vielleicht eine besser im Sommer und die andere besser im Winter. Hat man nur eine gibt es Probleme zu einer der beiden Jahreszeiten. Die Tiere magern ab, werden anfällig für Krankheiten und Parasiten, können sich nicht vermehren und tragen damit erneut zu steigender Inzucht bei, weil die nächste Generation aus weniger Elterntieren entsteht.
Körperliche Missbildungen, wie z. B. ein verkürzter Unterkiefer sind schon der Gipfel des Eisbergs, haben Sie einmal in einem Vortrag erwähnt. Wie steht es dann um die übrige Population, wenn sich bereits so drastische Folgen zeigen?
GR: Körperliche Missbildungen sind eine Besonderheit, weil bestimmte Defektgene in einer Population überhaupt vorhanden sein müssen, damit sie auftreten können. Insofern heißt es nicht, dass Populationen ohne Defekte automatisch genetisch gesund sind. Aber wenn Defekte auftreten zeigen sie an, dass die Population bereits einen kritischen Homozygotie- bzw. Inzuchtgrad erreicht hat, dass das Defektgen heterozygot schon weit verbreitet ist und nun die ersten homozygoten Defektkälber entstehen. Aber wie beim Eisberg ist das was in der Tiefe kommt das eigentlich gefährliche, denn dort geht es um Fitness und Fruchtbarkeit, bei denen Ausfälle kaum auffallen. Und genau diese Probleme müssen wir in den Populationen erwarten. Unsere Studien haben ja auch klar bewiesen, dass diese Missbildungen mit erheblichen Inzuchtgraden einhergingen und bis zu 16% der nicht betroffenen ebenso hohe Inzuchtgrade aufwiesen. Diese Tiere hatten Glück, das das einzelne Defektgen fehlt, aber sie lassen die identischen Folgen für Fitness und Fruchtbarkeit erwarten.
Wie lange würde es rechnerisch dauern, bis eine solche Population aufgrund geringer Fortpflanzungsfähigkeit, Krankheiten oder fehlender Widerstandskraft nicht mehr überlebensfähig wäre?
GR: Das kann viel schneller gehen als man denkt. Wir haben hochgerechnet, dass wenn sich nichts Entscheidendes ändert, die Verluste an Kälbern im 1. Lebensjahr in den kleinen Gebieten um plus 30 bis 40 % ansteigen dürften. Nach international anerkannten, wissenschaftlichen Standards sind 9 der 19 hessischen Rotwildgebiete nicht mehr in der Lage, kurzfristige Inzuchtdepressionen aufzufangen. Keines der Gebiete, auch nicht die, zwischen denen noch ein Restaustausch besteht, verfügt über ein langfristiges Anpassungsvermögen. Schauen Sie nach Schleswig-Holstein ins Gebiet Hasselbusch, dort haben die Inzuchtdepressionen ein so starkes Ausmaß erreicht, dass ich nicht weiß, wie diese Defektgene jemals wieder eliminiert werden könnten. Für mich ist diese Population verloren. Wir sollten nicht warten, bis das auch bei uns passiert.
Trotzdem wird auch auf politischer Ebene immer davon gesprochen, dass es zu viel Wild gibt und dieses Wild den Wald schädigt bzw. bei der Aufforstung im Wege steht. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation, insbesondere in den kleinen verinselten Populationen?
GR: Die gebetsmühlenartige Propagierung eines Wald-Wild-Konfliktes macht mir Angst. Natürlich ist es einfacher einen Wald ohne Wild anzupflanzen und hochzuziehen. Aber was ist ein Wald ohne Wildtiere? Wie unterscheidet der sich noch von einer Agrarlandschaft voller Energiemais. Ich verstehe unter Biodiversität etwas ganz anderes und das Rotwild als größtes noch lebendes Säugetier in Hessen stellt ohne Zweifel einen wertvollen Pfeiler dieser Biodiversität dar. Wenn in Afrika Elefanten und Giraffen Felder verwüsten und geschossen werden sollen, sind wir uns einig, dass diese Arten der Nachwelt erhalten werden müssen. Vor der eigenen Haustür hingegen veranstalten wir eine reine Hetzjagd, die logisch nicht nachzuvollziehen ist. Warum muss ein Jungwald unbedingt ohne Schutzgatter groß werden? Ein Wald aus dem der Förster tausende Bäume entfernen muss, bis die Erntereife erreicht ist.
Wildbiologisch ist völlig klar, dass Schäle nur zu einem geringen Anteil von der tatsächlichen Populationsgröße abhängt, stattdessen jedoch von schlechter Lebensraumqualität, zu hohem Jagddruck, zu hohem Freizeitdruck und damit insgesamt zu viel Stress. Je weniger Tiere es werden und je mehr Störungen diese ausgesetzt sind, desto unsicherer werden sie. Sie bleiben im Wald, werden hungrig und fangen dann das Schälen an. Daraufhin werden höhere Abschusszahlen angesetzt und der Teufelskreis geht weiter.
Ich will ja keineswegs fordern, dass die Tierzahlen immer höhergeschraubt werden sollten. Jedes Gebiet hat seine Belastungsgrenze. Deshalb geht es insbesondere darum, die Gebiete miteinander zu vernetzen. Dadurch wird aus 19 kritischen Populationen eine unkritische mit regem genetischem Austausch und in Folge davon ausgeprägter genetischer Variabilität und Fitness. Die Verknüpfung der Biotope käme darüber hinaus der gesamten hessischen Biodiversität zugute.
Wie würde sich ein starker jagdlicher Eingriff, eine Bestandreduzierung beispielsweise um 20 % – also bei 200 Tieren um rund 40 Tiere – auf die Vitalität und Gesundheit der Tiere auswirken?
GR: Wir konnten schon nachweisen, dass ein Reduktionsabschuss im Krofdorfer Forst in den 1980er Jahren von 400 auf 200 Tiere einen Verlust der genetischen Vielfalt um 15% mit sich brachte und die effektive Populationsgröße, die auf keinen Fall unter 100 sinken darf, auf 46 absenkte. Eine solche Reduktion würde der Population den Rest geben und eine nachhaltige Inzuchtdepression zementieren.
Es gilt also einerseits die Bejagung so durchzuführen, dass die entsprechenden Abschussvorgaben erfüllt werden, andererseits aber so sensibel zu jagen, um den Bestand in seinem Fortbestand nicht zu gefährden. Wie kann das gelingen?
GR: Man kann die derzeit geforderten Zahlen in den kleinen Gebieten nicht guten Gewissens umsetzen. Hier geht die Schalenwildrichtlinie von falschen Voraussetzungen aus. Sie muss dringend überarbeitet werden.
Schon während der Jungjägerausbildung lernen die angehenden Jägerinnen und Jäger, dass körperlich schwaches oder natürlich auch krankes Wild zuerst zu erlegen ist. Doch lässt sich das je nach Reviergegebenheiten oft nur schwer einschätzen. Kann eine unterdurchschnittliche körperliche Entwicklung hinsichtlich Größe und Gewicht ein Indiz für eine schlechte genetische Veranlagung sein?
GR: Das kann sein. Dieser Effekt wird aber auch durch Stress, Äsungsangebot, Bodenqualität und andere Faktoren überlagert. Auch zu viel Wild in zu engen Räumen kann solche Veränderungen mit sich bringen. Es wäre ein Leichtes, diese Frage in einem betroffenen Gebiet wissenschaftlich aufzuklären, wenn man wollte.
Welche Rolle spielt außerdem die Geweihentwicklung bei männlichem Rotwild, also den Hirschen? Lässt sich von einem gut ausgeprägten starken Geweih auf eine gute Genetik schließen?
GR: Ernstgemeinte Selektionsversuche auf Geweihstärke in Ungarn haben am Ende nichts gebracht. Es ist wie mit der körperlichen Entwicklung, eine Mischung aus Genetik, Umwelt und Stress. Dennoch gehe ich davon aus, dass durch Erlegung der schwächeren Tiere einer Altersklasse auch Tiere mit besonders hohen Inzuchtgraden abgeschöpft werden.
Ist insofern eine selektive Bejagung mit dem Ziel, dass sich genetisch gut veranlagte Tiere fortpflanzen können, überhaupt möglich?
GR: Ja, obwohl sie natürlich nicht alle zuvor gemachten Fehler wieder ausgleichen kann. Selektive Bejagung stellt aber auch indirekt einen Pfeiler des Rotwildmanagements dar, der den gesunden Aufbau einer Rotwildpopulation erhält und die Schäle reduziert. Ein weiteres Argument gegen die Schalenwildrichtlinie.
Welchen Einfluss wird neben der Bejagung der Wolf auf die Entwicklung der Rotwildbestände und der genetischen Vielfalt haben?
GR: Ich denke der Wolf wird erhebliche Auswirkungen auf den gesamten Bereich der Biodiversität haben. Wir neigen zu plakativem Denken. Mit dem Wolf im Wald erhalten wir das Gefühl einer starken Biodiversität. Es wird sich zeigen müssen, ob die Basis der Nahrungspyramide (und damit meine ich nicht das Rot- oder Rehwild) tatsächlich so stark ist, wie die Anwesenheit des großen Beutegreifers impliziert.
Nachdem nun die Hotspots des genetischen Rückgangs in Hessen identifiziert sind: Welche Maßnahmen sind nun notwendig, um der weiteren genetischen Verarmung entgegenzuwirken?
GR: Entscheidend sind zwei Faktoren: 1. Die nachhaltige und ernstgemeinte Vernetzung der Gebiete miteinander. Wenn uns dies nicht gelingt, verlieren wir langfristig unsere Rotwildpopulationen. Hier sind insbesondere die Jagdausübungsberechtigten und Forstleute im Bereich der rotwildfreien Gebiete angesprochen. Ohne deren Bereitschaft, junge Hirsche von 2 bis 4 Jahren wandern zu lassen, wie es die Natur vorgesehen hat, helfen weder Grünbrücken noch Biotopvernetzung. Die Politik hat den Abschuss mit der Schalenwildrichtlinie forciert, die Umsetzung in den Revieren funktioniert hervorragend. Wir finden hervorragende Barrieren auch in Gebieten, die frei sind von Autobahnen oder größeren Fernstraßen. Ich sehe hier schwarz.
2. Die Aufrechterhaltung effektiver Populationsmindestgrößen durch Verbesserung der Lebensräume für das Rotwild. Unsere Daten zur genetischen Problematik beim hessischen Rotwild sind von internationalen Experten bewertet und anerkannt. Bei uns tut man so, als gäbe es sie nicht. Ich denke der Rothirsch als Art wird geopfert.
Der Schutz der genetischen Vielfalt wird heute dem Artenschutz und dem Schutz von Ökosystemen gleichgestellt. Die Forderungen zum Erhalt und der Verbesserung der Gesundheit der Wildtiere und der Biodiversität sind nach den Ausführungen Ihres Kommentars u. a. in der Berner Konvention von 1979, der UNO-Konferenz von Rio von 1992 sowie dem Bundesnaturschutz- und Bundesjagdgesetz zu entnehmen. Welche Forderung richten Sie unter diesen Gesichtspunkten an die hessische Landes- sowie an die Bundespolitik?
GR: Ich denke meine Forderungen, die sich ja mit denen zahlreicher, erfahrener Wildbiologen und Naturschützern decken sind bereits sehr deutlich geworden. Ich glaube allerdings nicht mehr an eine Umsetzung.
Wie können Jägerinnen und Jäger einerseits durch die Gestaltung von Lebensräumen aber auch durch eine selektive Bejagung das Rotwild unterstützen?
GR: Die Populationsstrukturen müssen erhalten werden, der genetische Austausch muss ermöglicht werden und insbesondere die kleinen Populationen brauchen ein gescheites Management mit dem die Schäle unterbunden wird, ohne die Populationen zu opfern.
Welche weiteren Untersuchungen sind nötig?
GR: Eigentlich sind keine weiteren Untersuchungen notwendig. Die Misere ist wissenschaftlich klar belegt und für jedermann zugänglich und nachvollziehbar, z.B. in Form der bereits angesprochenen Broschüre, die auf der Seite der Deutschen Wildtierstiftung zum Download bereit steht oder als gedrucktes Exemplar bezogen werden kann. Ein Großteil der Politik, der rotwildfreien Gebiete und der Waldbesitzer ist auch nicht an weiteren Ergebnissen interessiert, die ja noch deutlicher nachvollziehbare Daten zur Vitalität oder Fruchtbarkeit mit sich bringen könnten.
Wann müssen die Untersuchungen wiederholt werden, um das Fortschreiten der genetischen Entwicklung zu kontrollieren?
GR: Es wäre wieder an der Zeit zu sehen, ob die Misere weiter zugenommen hat oder ob eine Verbesserung der Situation eingetreten ist.
Welche Auswirkungen erwarten Sie bereits jetzt?
GR: Seit Veröffentlichung der Ergebnisse haben sich die Bedingungen für den Rothirsch in Hessen nicht gerade verbessert, allein schon durch die strikte Umsetzung der Schalenwildrichtlinie.
Bisher wurde der Rückgang der genetischen Vielfalt anhand von Knochensubstanz, Losung oder Blut nachgewiesen – nicht aber, ob z. B. erlegte Tiere bereits körperliche Veränderungen, z. B. verkürzte Läufe, Rückenlinien oder auch hinsichtlich der Fruchtbarkeit aufweisen. Sind in diesem Bereich weitere Untersuchungen geplant?
GR: Ich sehe derzeit keine Förderung.
Wie können einerseits Jägerinnen und Jäger diese Forschungsarbeit unterstützen und welche finanziellen Mittel wären notwendig, um diese zeitnah durchzuführen?
GR: Ein solches Projekt müsste von einer größeren Organisation, z.B. vom Landesjagdverband initiiert und koordiniert werden. In kleinem Rahmen mit Einzelpersonen lässt sich da nichts erreichen.
Oft hört man den Einwand bzw. auch den Lösungsvorschlag, man könne doch einen oder auch mehrere Hirsche aus einer anderen Population – z. B. aus dem Odenwald – einbringen, um frischen genetischen Wind in eine verarmte Population zu bringen. Auch eine künstliche Befruchtung wird ins Spiel gebracht. Wieso sind diese Ad-hoc-Vorschläge keine Lösung für das Genetikproblem?
GR: Diese Vorschläge verkörpern den aktuellen Zeitgeist: den einfachen Weg des geringsten Widerstandes gehen, der Weg ist das Ziel, das Ergebnis nicht so entscheidend. Biodiversität bedeutet nicht, dass möglichst viele Arten bunt durcheinanderlaufen, sondern, dass auch jede Art für sich eine hinreichende genetische Diversität besitzt, um langfristig überleben zu können. Ansatzpunkt ist die Population, nicht das Einzeltier. Jede Region trägt ihr spezifisches Genmuster, das die Art exakt an diese anpasst und ihr erlaubt sich dort zu erhalten und weiterzuentwickeln. Einzeltiere durch Transfer oder künstliche Besamung einzubringen, wäre der Tropfen auf den heißen Stein. Solche Versuche gab es schon oft. Meist waren die ausgesetzten Tiere bei weitem nicht so erfolgreich wie erwartet. Unsere Populationen sind noch in der Lage, sich auszutauschen und anzupassen. Wir müssen die Grundlage dafür herstellen, dass sie das tun können. Einen Wildpark aufzubauen, bei dem der Mensch die Evolution übernimmt, wäre aus meiner Sicht das Ende der Wildbahn.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Rotwildes in Hessen aber auch bundesweit?
GR: Ich wünsche mir, dass sich die Verantwortlichen mit dem Gedanken anfreunden, dass das Rotwild in Zeiten der Biodiversität vielleicht doch etwas größeres darstellt als einen geweihtragenden Waldvernichter und dass die bloße Anwesenheit dieser Tiere in einer Region noch lange keine überlebensfähige Population ausmacht. Oder einfacher: Ich wünsche dem Rotwild die Hälfte der Aufmerksamkeit, die der Wolf genießt.
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Blick ins Buch: Gefiederte Biodiversität Deutschlands und Europas – wildlife
UVP Preis: 39 €, ISBN 978-3-936802-33-7
Autor: Gerald Reiner
Jahr: 2021
Bestellungen sind über die Deutsche Wildtierstiftung möglich.
Ein Kommentar bei “Jagd Podcast Jagdtalk #09: Rotwild in Gefahr? Wie kann die genetische Vielfalt gesichert werden?”